Falsche Erwartungen: Wieso wir nicht jede E-Mail sofort beantworten müssen

Menschen fühlen sich häufig verpflichtet, jede E-Mail sofort zu beantworten – weil sie glauben, dass der Absender eine schnelle Reaktion erwartet. Dabei stimmt das gar nicht.

Keine Frage: Technologien wie E-Mails und Instant-Messaging-Programme machen es wesentlich leichter, mit Kollegen zu kommunizieren.

Doch diese Leichtigkeit verändert gleichzeitig die Erwartungshaltung: Weil so eine digitale Nachricht schnell getippt und verschickt ist, erwarten viele Menschen fast zwangsläufig ebenso fix eine Antwort. Schnelle Kommunikation gilt als Indikator für Fleiß und Sorgfalt.

Aber sollten wir deshalb alles daran setzen, berufliche E-Mails immer so schnell wie möglich zu beantworten – mitunter sogar noch am Feierabend und am Wochenende?

Mitnichten, meinen zumindest Laura Giurge (London Business School) und Vanessa Bohns (Cornell-Universität): „Die Empfänger einer E-Mail überschätzen, wie schnell die Absender eine Antwort erwarten“, schreiben sie in ihrer neuen Studie im Fachjournal „Organizational Behavior and Human Decision Processes“.

Die beiden Verhaltensökonominnen befragten in acht verschiedenen Experimenten mehr als 4000 Menschen. Die eine Hälfte sollte sich in die Rolle des E-Mail-Empfängers versetzen, die andere in die Rolle des E-Mail-Versenders. Wie schnell sollte man auf die elektronische Post reagieren?

Und siehe da: Die Antwort war wesentlich davon abhängig, in welche Rolle die Freiwilligen sich versetzt hatten: In jedem einzelnen Experiment war die Erwartungshaltung der Empfänger höher als die der Versender – und zwar selbst dann, wenn die Mail außerhalb der regulären Arbeitszeit verschickt wurde und selbst wenn es weder dringend noch wichtig war.

Mit anderen Worten: Wer eine E-Mail bekam, fühlte sich gewissermaßen unter Druck gesetzt, schnell darauf zu antworten – dabei gab es diese Erwartung seitens der Versender gar nicht.

Dahinter steckt ein Phänomen, das Giurge und Bohns „email urgency bias“ nennen. Dieser Denkfehler führt dazu, dass die Empfänger die Erwartungen der Absender in Bezug auf die Antwortgeschwindigkeit überschätzen – mit der Folge, dass die Empfänger sich von E-Mail mehr stressen lassen als das von den Absendern überhaupt beabsichtigt war.

Giurge und Bohns zufolge liegt das an der menschlichen Egozentrik. Weil wir uns selbst im Mittelpunkt sehen, versetzen wir uns nicht ausreichend in die Rolle eines Anderen.

Wenn wir unseren Posteingang als Empfänger betrachten, machen wir uns mehr Gedanken über die Erwartungen an die Antwortgeschwindigkeit. Wenn wir dagegen unseren Posteingang als Absender betrachten, geht es uns eher um die Reaktion auf den Inhalt der E-Mail.

Was sich dagegen tun lässt?

In einem letzten Experiment stand am Ende der E-Mails der explizite Hinweis: „Es handelt sich nicht um eine dringende Angelegenheit, so dass Sie sich damit befassen können, wann immer es passt.“ Was dann passierte? Genau: Die Empfänger fühlten sich direkt weniger unter Druck gesetzt.

Quelle:
Laura Giurge und Vanessa Bohns (2021). You don’t need to answer right away! Receivers overestimate how quickly senders expect responses to non-urgent work emails. Organizational Behavior and Human Decision Processes, Band 167, Seite 114-128

3 Kommentare

  1. Ein guter Hinweis: Mails aus Absender-Sicht zu betrachten.
    Mein Hinweise: Mails thematisch bearbeiten anstatt nach der Reihenfolge des Eingangs. Solange das Thema noch nicht dran ist, lasse ich die Korrespondenz dazu ungelesen.
    Emotionale Mails lösen Stress aus. Manchmal ist es besser, sie telefonisch zu beantworten.

  2. Vielen Dank für diesen sehr interessanten Beitrag und die Informationen!
    Das spricht mich sehr an!
    Ich denke, dass so viele E-Mailempfänger empfinden.
    Viele freundliche Grüße,
    Sandra Cecotti

  3. Was müsste der Inhalt einer Mail sein, dass er sofort beantwortet werden müsste? Brauche ich eine sofortige Reaktion, wähle ich als Absender nicht die E-Mail.

    Deshalb bleibt mein Postfach, obwohl ich als Dienstleister tätig bin, bis mindestens 11 Uhr geschlossen.

    Schlimmer als Zeit und Druck der durch Mails entsteht: ich habe nicht in der Hand, wer mich zu welchem Zeitpunkt eine Mail schickt und was deren Inhalt ist. Damit beeinflusst jemand externes mein Gemüt, meine Leistungsfähigkeit und meine Konzentration.

    In meinen Augen sind Mails eines der Medien, die inzwischen vollkommen entgegen dem ursprünglichen Zweck eingesetzt werden.

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