Kleine Zahlen links, große rechts – das Konzept der so genannten Zahlengerade ist im menschlichen Gehirn verankert. Das zumindest dachten Forscher lange Zeit. Eine faszinierende Studie räumt jetzt mit dieser Vorstellung auf.
Mathematik ist ein zentraler Bestandteil unseres Lebens – auch wenn viele Menschen das nicht wahrhaben wollen. Nehmen wir mal die so genannte Zahlengerade. Vereinfacht gesagt geht es darum, dass wir Zahlen als Punkte auf einer geraden Linie darstellen – kleine Zahlen ganz links, größere rechts. Beispiele im Alltag: Ein Zollstock und ein Lineal oder, etwas fortgeschritten, die Tankanzeige im Auto und der Akkustand des Handys.
Klingt trivial, ist es auch – das zumindest dachten Wissenschaftler bislang immer. Bereits im Jahr 1880 vermutete der britische Forscher Francis Galton, dass die Zahlengerade und ihre Verwandten eben deshalb so weit verbreitet sind, weil sie gewissermaßen zur menschlichen Natur gehören. Diese Vermutung wurde seitdem in vielen Untersuchungen bestätigt. Einige konnten nachweisen, dass schon Vorschulkinder gewisse Vorstellungen von Zahlen haben; andere legten nahe, dass unser Gehirn gewissermaßen darauf programmiert sei, Zahlen auf einer Linie darzustellen. Die Zahlengerade, so der Konsens, sei ein globales Phänomen, das im Menschen verankert ist. Doch damit dürfte es nun vorbei sein.
Der Grund ist eine faszinierende neue Studie des Kognitionswissenschaftlers Rafael Núñez von der Universität von Kalifornien in San Diego. Mit seinem Mitarbeiter Kensy Cooperrider und dem Heidelberger Ethnologen Jürg Wassmann reiste Núñez dafür im Herbst 2009 in das abgelegene Finisterre-Gebirge in Papua-Neuguinea. Dort lebt in verschiedenen Dörfern das Volk der Yupno, ein Stamm von etwa 5000 Eingeborenen. Die meisten können weder lesen noch schreiben, nur einige wenige erhalten schulische Bildung.
Núñez und seine Kollegen konnten für ihr Experiment 20 Yupno gewinnen. 14 hatten noch nie eine Schule besucht, sechs waren in etwa auf dem Niveau eines Achtklässlers, was bei dem Stamm selten vorkommt. Auf einer Linie sollten sie nun die Zahlen eins bis zehn anordnen – mal wurden den Probanden die Ziffern in ihrem Dialekt vorgetragen, mal als Punkte auf einem Papier.
Und siehe da: Jene Yupno mit Schulbildung platzierten die Zahlen tatsächlich auf einer geraden Linie, auch wenn die einzelnen Abstände etwas unregelmäßig waren. Das eigentlich Verblüffende kommt aber erst jetzt. Denn jene Yupno, die noch nie eine Schule besucht hatten, ignorierten das Konzept der Zahlengerade völlig. Sie platzierten die Zahlen eins und zwei an das eine Ende der Linie – und alle restlichen Zahlen an das andere Ende.
Selbst als Núñez die Zahl fünf in die Mitte legte, behielten sie ihre eigenwillige Anordnung bei. Mit anderen Worten: Das Konzept der Zahlengerade war ihnen fremd – ganz im Gegenteil zu jenen Stammesbrüdern, die bereits eine Schule besucht hatten.
„Die Zahlengerade ist also keinesfalls im menschlichen Gehirn verankert“, resümiert Núñez, „sondern vielmehr ein kulturelles Werkzeug, das Erziehung und Übung erfordert.“
Quelle:
Rafael Núñez, Kensy Cooperrider, Jürg Wassmann (2012). Number Concepts without Number Lines in an Indigenous Group of Papua New Guinea. PLoS One 7(4).
Dazu passend: nicht nur die Zahlengerade an sich scheint antrainiert zu sein, sondern auch der lineare Abstand zwischen den Zahlen. Vielmehr denken wir (ohne den Matheunterricht in der Schule) logarithmisch. Was durchaus Sinn ergibt wenn man sich überlegt, dass es ein großer Unterschied ist, ob ein einziger Säbelzahntiger angreift oder gleich zwei. Wenn aber eh schon 100 Säbelzahntiger hinter einem herjagen, ist es vollkommen egal ob noch ein weiterer hinzukommt.
Siehe z.B. auch: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,556493,00.html