Endlose Erinnerungen – Wenn jeder Tag im Gedächtnis bleibt

Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich an jeden einzelnen Tag Ihres Lebens erinnern. Jede Begegnung, jedes Erlebnis. Eine Horrorvorstellung? Vielleicht. Fakt ist: Solche Menschen gibt es wirklich.

Es begann mit einem Brief.

„Sehr geehrter Herr McGaugh, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Aber ich hoffe, sie können mir helfen. Ich bin jetzt 34 und seit meinem elften Lebensjahr kann mich an jeden beliebigen Tag erinnern – welcher Wochentag es war, was ich damals gemacht habe und ob irgendetwas Wichtiges passiert ist. Manche Menschen nennen mich schon den menschlichen Kalender, alle sind völlig verblüfft. Sie halten es für eine Gabe, aber für mich ist sie eher eine Last – und die macht mich noch verrückt!“

Wie war das Wetter an Ihrem 18. Geburtstag? An welchem Wochentag wurden Sie eingeschult? Und was trugen Sie während Ihres ersten Kusses? Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie keine der Fragen beantworten können, ist relativ hoch. Doch für die Amerikanerin Jill Price ist die Antwort kein Problem.

Märchen oder Wahrheit?

Vor einigen Jahren wandte sich Price in einem Brief an den renommierten Neurobiologen James McGaugh von der Universität von Kalifornien in Irvine. Der Wissenschaftler war nach der Lektüre des Briefs verblüfft und neugierig zugleich. Erzählte Jill Price Märchen oder sagte sie die Wahrheit? War sie eine begnadete Lügnerin oder ein medizinisches Wunder?

Um diese Fragen zu beantworten, unterzog er Price daraufhin fünf Jahre lang verschiedenen Tests. Mit speziellen Fragebögen testete er ihr Erinnerungsvermögen und untersuchte ihr Gehirn. Und am Ende seiner Tests veröffentlichte er eine Studie, die bei seinen Fachkollegen für Aufregung sorgte. Denn Jill Price hatte nicht gelogen. Sie hatte tatsächlich ein schier unfassbares Gedächtnis.

McCaugh taufte diese Entdeckung „hyperthymestisches Syndrom“. Dahinter verbirgt sich eine seltene Gabe: Jill Price kann sich tatsächlich mühelos an die Vergangenheit erinnern. Nicht an einzelne Erlebnisse – sondern an jeden einzelnen Tag.

Seitdem haben sich bei McCaugh Hunderte von Personen gemeldet, die ebenfalls ein solch übermenschliches Gedächtnis reklamierten. Doch es war unbekannt, wie viele davon wirklich glaubhaft waren. Bis jetzt. Denn Hirnforscher um McCaugh und seine Doktorandin Aurora LePort haben in einer neuen Studie weitere Fälle identifiziert.

Um die flunkernde Spreu vom wahrheitsgetreuen Weizen zu trennen, ließ LePort die 115 Personen zunächst verschiedene Fragen beantworten. Zum einen fragte sie nach den Daten gewisser Ereignisse. Etwa: Wann genau erhielt der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter den Friedensnobelpreis? Zum anderen erkundigte sie sich nach wichtigen Ereignissen aus deren Leben – wann genau sie eingeschult wurden beispielsweise und an welchem Wochentag.

Nach allen Durchläufen blieben elf Personen übrig, sieben Männer und vier Frauen. Diese lud die Forscherin ins Labor ein und legte ihnen weitere Tests vor. Und die Ergebnisse ähneln denen von Jill Price.

Denn keiner der Freiwilligen verfügte über ein besonders gutes Kurzzeitgedächtnis. Niemand kannte besondere Merktechniken, mit denen er Daten und Fakten gut memorieren konnte. Stattdessen fiel LePort und Co. etwas anderes auf: Das Gehirn der Supermerker tickte tatsächlich anders.

Insgesamt fanden die Wissenschaftler neun Regionen im Gehirn, die bei den Probanden anders ausgeprägt waren als bei normalen Menschen. Die meisten Unterschiede fanden sie in Gehirnarealen, die mit dem autobiografischen Gedächtnis zusammenhängen.

Dazu muss man wissen, dass Neurologen zwischen dem episodischen und dem semantischen Gedächtnis unterscheiden. Ersteres umfasst persönliche Erlebnisse wie schöne Urlaube, Feiern oder Liebeleien, zu Zweiterem gehören gelernte Fakten wie Vokabeln oder fachliche Kenntnisse.

Bislang gingen Forscher immer davon aus, dass Menschen Erinnerungen vor allem dann abspeichern, wenn sie mit Gefühlen verbunden sind. Doch die Testpersonen mit dem hyperthymestischen Syndrom widerlegen diese These – denn sie merken sich die Erlebnisse auch ohne Emotionen. Für die Betroffenen Fluch und Segen zugleich.

Quelle:
Aurora LePort et al (2012). Behavioral and neuroanatomical investigation of Highly Superior Autobiographical Memory (HSAM). Neurobiology of Learning and Memory, Band 98, Ausgabe 1, Seite 78-92.

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