Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz sind ansteckend

Es gilt als große Errungenschaft, dass Mitarbeitende ständig den Arbeitgeber wechseln – doch laut einer Studie erhöhen Unternehmen damit die Gefahr psychischer Erkrankungen.

„Kirchen, Armeen und Universitäten gehören zu den stabilsten Organisationen der Welt“, schreibt der Schweizer Autor Rolf Dobelli in seinem Buch „Die Kunst des guten Lebens“. Aber wieso haben sie mehrere Jahrhunderte überdauert und Dutzende von Kriegen überlebt?

Dobellis Antwort lautet: „Sie rekrutieren von innen heraus. Jede Führungsstufe besitzt intimes, praktisches Wissen, wie es sich » darunter « anfühlt. Um Bischof zu werden, muss man irgendwann einmal ganz unten als Pfarrer angefangen haben. Jeder General hat irgendwann einmal als Soldat begonnen. Und Rektor einer Universität wird man nur, wenn man einmal kleiner Assistenzprofessor war.“

An diese Passage aus dem Buch von Dobelli musste ich denken, als ich die Studie von Julia Kensbock las. Die gebürtige Deutsche ist Psychologin und arbeitet als Assistenzprofessorin an der Universität Maastricht. Und in ihrer neuen Studie räumt sie mit einem Mythos auf.

Angeblich gilt es als große Errungenschaft der modernen Wirtschaftswelt, dass Mitarbeitende ständig den Arbeitgeber wechseln können. Diese „employee mobility“ wird heute fast schon erwartet, auch weil scheinbar alle davon profitieren. Wer auf die Firma A oder den Chef B keine Lust mehr hat, wechselt einfach den Arbeitgeber. Externe Bewerber*innen bringen neue Erfahrungen, neues Wissen und neue Ideen mit, wovon der neue Arbeitgeber profitiert, dafür steigt beim Jobwechsel meistens das Gehalt. Eine klassische Win-Win-Situation? Nicht ganz.

Denn tatsächlich riskieren Unternehmen bei externen Einstellungen die seelische Gesundheit ihrer internen Belegschaft.

Wie Kensbock darauf kommt?

Für ihre Studie bekam sie Daten des dänischen Statistikamtes. Darin enthalten: Informationen über mehr als 250.000 Menschen aus den Jahren 1996 bis 2015 – wo sie arbeiteten, was sie verdienten, ob sie Führungsverantwortung hatten, solche Sachen.

Diese Daten glich Kensbock nun mit medizinischen Datenbanken aus Dänemark ab, in denen alle ärztlichen Diagnosen festgehalten werden – darunter auch Diagnosen zu Depressionen, Angstzuständen oder sonstigen stressbedingten Störungen.

Das heißt: Kensbock konnte drei Dinge feststellen. Erstens: wer wann wo arbeitete. Zweitens: ob und wann bei diesen Personen mal psychische Erkrankungen diagnostiziert worden waren. Und drittens: ob es Unternehmen gab, in denen diese Diagnosen besonders häufig waren.

Bevor wir zu den zentralen Erkenntnissen kommen, hier eine kleine Randnotiz: In größeren Unternehmen gab es tatsächlich mehr Fälle psychischer Krankheiten. Aber das nur nebenbei.

Jedenfalls stieß Kensbock bei ihrer Analyse auf drei faszinierende Erkenntnisse.

Erstens: Nachdem ein Unternehmen eine Person von außen einstellte, bei der schon mal eine psychische Krankheit diagnostiziert worden war, stieg in eben diesem Unternehmen ebenfalls die Zahl der psychischen Krankheiten.

Zweitens: Selbst wenn ein Unternehmen eine Person von außen einstellte, bei der zwar noch nie eine psychische Krankheit diagnostiziert worden war, die aber aus einem Unternehmen kam, in der es viele dieser Erkrankungen gab – dann stieg bei dem neuen Unternehmen ebenfalls die Zahl der psychischen Krankheiten.

Und drittens: Dieser Ansteckungseffekt war besonders groß, wenn die Neueinstellung eine Führungsposition bekam oder besonders lange in einer ungesunden Organisation gearbeitet hatte.

Kensbock: „Genauso wie die geografische Mobilität die Ausbreitung von Infektionskrankheiten fördert, erleichtert die Mitarbeitermobilität die Ausbreitung von Depressionen, Angstzuständen und stressbedingten Störungen in ‚gesunden‘ Organisationen.“

Aber wieso?

Inzwischen ist bekannt: Es gibt Ansteckung nicht nur bei biologischen Phänomenen, sondern auch bei psychologischen. Gewisse Verhaltensweisen ziehen sich durch ganze Gruppen. Und es gibt laut Kensbock zumindest gute Gründe zu der Annahme, dass das bei psychischen Erkrankungen genau so ist.

Sie schreibt: “Depressionen, Angst und Stress lassen sich in den Emotionen, Gedanken und Verhaltensweisen von Menschen beobachten.“ Ein simples Beispiel: Wenn sich die Gespräche mit Kolleg*innen immer nur um die anstrengenden Aspekte des Bürolebens drehen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man sich davon beeinflussen lässt. Und mehr noch: So wie einen Virus nimmt man diese psychischen Leiden dann mit zum neuen Arbeitgeber – und erhöht dort ebenfalls die Inzidenzrate psychischer Leiden.

Die Lektion? Ist nicht ganz so naheliegend.

Kensbock schreibt explizit: Es sei nicht Sinn der Sache, alle Kandidat*innen mit psychischen Vorerkrankungen oder Bewerber*innen aus “ungesunden” Unternehmen automatisch abzulehnen – oder gar keine externen Kandidat*innen mehr einzustellen.

Vielmehr appelliert sie an Arbeitgeber, sich nicht wegzuducken, sondern aktiv für das Wohlbefinden der Mitarbeiter zu sorgen – weil die Arbeitsbedingungen ihren Teil dazu beitragen, dass viele Menschen überhaupt erst psychisch erkranken.

Quelle:

Julia Kensbock et al (2021). The Epidemic of Mental Disorders in Business – How Depression, Anxiety, and Stress Spread across Organizations through Employee Mobility. Administrative Science Quarterly