Viele Menschen leugnen wissenschaftliche Erkenntnisse – und diese Art der Ignoranz kommt in Demokratien besonders häufig vor.
Für die einen ist Christian Drosten ein Volksheld, für die anderen ein Staatsfeind. Der Virologe der Berliner Charité forscht seit 20 Jahren an Coronaviren, er hat den weltweit ersten Covid-Test entwickelt, an seiner Expertise gibt es eigentlich überhaupt keinen Zweifel.
Uneigentlich musste Drosten in den vergangenen Monaten zahlreiche Anfeindungen erleben, sogar bis hin zu Morddrohungen. „Verehrt und verhasst“, titelte der Spiegel im Mai 2020, „Der Glaubenskrieg um den Virologen Christian Drosten“.
Da stellt sich doch unweigerlich die Frage: Warum sollte es so einen „Glaubenskrieg“ überhaupt geben? Wir sind eine aufgeklärte, offene, liberale, demokratische Gesellschaft – und die setzt doch traditionell auf Werte wie Rationalität, Vernunft, Gedanken- und Redefreiheit – wodurch wissenschaftliche Entdeckungen erst ermöglicht werden.
Wieso gibt es dann, obwohl wir in modernen Demokratien leben, so viele Menschen, die an den Erkenntnissen anerkannter Wissenschaftler zweifeln? Die das Tragen von Masken ebenso ablehnen wie Impfungen? Und die das Coronavirus für genauso gefährlich halten wie eine gewöhnliche Grippe?
Obwohl wir in einer Demokratie leben? Nein: genau deswegen.
So lautet jedenfalls das Fazit einer neuen Studie der beiden Politikwissenschaftler Junyan Jiang und Kinman Wan. Der eine arbeitet an der amerikanischen Columbia University, der andere ist Doktorand an der Chinesischen Universität Hongkong.
Der Titel ihrer Studie lautet: „Democracy and Mass Skepticism of Science”, also „Demokratie und die Massenskepsis gegenüber der Wissenschaft“. Und darin schreiben sie: „Gewisse Aspekte moderner Demokratien können die anti-intellektuelle Tendenz der Gesellschaft verschärfen und den wissenschaftlichen Fortschritt behindern.“
Demokratien als Förderer von Querdenkern, Verschwörungstheoretikern und esoterischem Geschwurbel? Wie kommen die beiden dann darauf?
Für ihre Arbeit wählten sie drei verschiedene Methoden.
Zum einen analysierten sie eine weltweite Umfrage, für die mehr als 140.000 Menschen in 143 Ländern befragt wurden. Vertrauten sie den Erkenntnissen der Wissenschaft? Glaubten sie an die Fähigkeiten und die Integrität der Forschenden? Und waren sie der Meinung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse der Gesellschaft nützen?
Das Ergebnis: Sechs der zehn Länder mit dem geringsten Vertrauen in die Wissenschaft waren Demokratien. Aber: Es kam vor allem auf den Bildungsstand an – weniger gebildete Bürger*innen in Demokratien waren gegenüber der Wissenschaft wesentlich skeptischer als weniger gebildete Bürger*innen in Nicht-Demokratien. Warum? Dazu gleich mehr.
Zweitens analysierten die Forscher die Verfassungen von mehr als 150 Nationen – und schauten, wie oft darin Bezüge zu wissenschaftlichen Aspekten auftauchten. Und siehe da: In den Verfassungen von Demokratien kamen solche Bezüge seltener vor als in nicht-demokratischen Staaten.
Und drittens schauten die Forscher, an welche Personen weltweit nationale Ehrungen und Auszeichnungen vergeben wurden. Das Ergebnis: Wissenschaftler*innen bekamen solche Auszeichnungen in Demokratien seltener als in Nicht-Demokratien.
Das Fazit: „Demokratische Regierungen sind sowohl weniger fähig als auch weniger bereit, sich öffentlich für die Wissenschaft stark zu machen als nicht-demokratische Regierungen.“
Wie kann das sein? Sollte man nicht davon ausgehen, dass Demokratie und Wissenschaft Hand in Hand gehen?
Die Politikwissenschaftler haben für ihre Entdeckung zwei Erklärungen.
Zum einen: In vielen Demokratien herrscht ein extremes Misstrauen in die Regierung – und ohne Vertrauen keine Glaubwürdigkeit. Wenn man alles, was von offiziellen Stellen kommt, sowieso erstmal anzweifelt oder sowieso nicht glaubt – dann glaubt man natürlich auch nicht den Erkenntnissen von Experten.
Und die andere Erklärung lautet: Demokratien haben weniger Anreiz, sich für die Wissenschaft stark zu machen. Demokratische Staaten ziehen ihre Legitimation aus, nun ja: demokratischen Prozessen. Wahlen zum Beispiel.
In nicht-demokratischen Staaten hingegen, schreiben die Forscher, sei Wissenschaft mitunter ein Mittel der Legitimation. Ohne freie Wahlen brauchen die Regime irgendeine Daseinsberechtigung – und deshalb behaupten sie einfach, ihre Existenz basiere auf irgendeiner rationalen, aufgeklärten Macht.
Das heißt: Es liegt im politischen Interesse solcher undemokratischen Regime, dass ihre Bürger*innen eine hohe Wertschätzung für die Wissenschaft haben (oder zumindest das, was sie dafür halten).
Zynisch gesprochen: Undemokratische Staaten haben automatisch ein Interesse daran, dass die Menschen an die Wissenschaft glauben. Für Demokratien lohnt es sich demnach nicht so sehr, das Image der Wissenschaft aufzupolieren – denn sie ziehen ihre Daseinsberechtigung aus anderen Umständen.
Die Forscher sehen ihre Ergebnisse als „Anlass zu ernster Sorge“. Und zwar nicht nur, weil durch fehlendes Vertrauen in die Wissenschaft Maßnahmen, die in der Wissenschaft Konsens sind, boykottiert werden. Sondern vor allem, weil die Erosion des Vertrauens in die Wissenschaft langfristig sowohl der Wissenschaft als auch der Demokratie schadet.
Was tun? Die Forscher appellieren einerseits an nicht-staatliche Akteure, die Öffentlichkeit aktiver anzusprechen. Andererseits nehmen sie auch den Staat in die Pflicht. Er müsse sich wesentlich starker darum kümmern, einen öffentlichen Konsens über grundlegende Fakten und essenzielle Werte zu erreichen.
Denn das Potenzial einer liberalen Gesellschaft lässt sich nur dann heben, wenn die individuelle Skepsis durch kollektive Wertschätzung für Wissenschaft ausgeglichen wird.
Die Demokratie ist eben wie ein zartes Pflänzchen. Wenn man es nicht pflegt, geht es irgendwann ein.
Noch mehr neue Studien aus der Verhaltensökonomie gibt es in der aktuellen Folge meines Podcasts: