Persönlichkeitspsychologie – Big Five doch nicht weltweit gültig

Jahrzehntelang gingen Psychologen davon aus, dass sich jeder Mensch in fünf Persönlichkeitsdimensionen einteilen lässt. Doch eine neue Studie legt nahe: Die Big Five sind offenbar doch nicht universell gültig.

Sind Sie eher aufbrausend oder still? Eher mutig oder ängstlich? Eher mitfühlend oder streitsüchtig? Anders gefragt: Was für eine Persönlichkeit haben Sie – und warum?

Unter „Persönlichkeit“ verstehen Psychologen erstmal nur „eine komplexe Menge von einzigartigen psychischen Eigenschaften“. Doch sie beeinflussen „die für ein Individuum charakteristischen Verhaltensmuster in vielen Situationen und über einen längeren Zeitraum hinweg“.

Aber wie genau kann man die Persönlichkeit eienes Menschen systematisch erfassen? Wie viele dieser Eigenschaften gibt es – und warum? Diese Fragen beschäftigen Wissenschaftler schon seit langem.

Blut und Galle

Der griechische Arzt Hippokrates äußerte seine Vermutung bereits im fünften Jahrhundert vor Christus. Er glaubte, dass in unserem Körper vier Säfte fließen, die mit bestimmten Gefühlen und Eigenarten einhergehen. Sein Kollege und Landsmann Galen entwarf daraus im zweiten Jahrhundert nach Christus eine Theorie, derzufolge die Persönlichkeit davon abhänge, welcher Körpersaft gerade dominiere.

„Blut“ steht für sanguinisches Temperament, also einen fröhlichen und aktiven Menschen. „Schleim“ deutet auf phlegmatisches Temperament hin, also einen trägen Charakter. „Schwarze Galle“ weist auf Melancholie hin, üblicherweise verbunden mit Traurigkeit und Nachdenklichkeit. Und „gelbe Galle“ steht für Choleriker, also aufbrausende und leicht reizbare Menschen.

Galens Theorie galt bis zum Mittelalter, inzwischen gilt sie höchstens noch als originell. Das verdanken wir auch den beiden Sozialpsychologen Gordon Allport und H.S. Odbert. Sie fanden 1936 in einem englischen Lexikon mehr als 18.000 Adjektive, die individuelle Charakterunterschiede beschrieben.

Das Problem war nur: Es ist unmöglich, Tausende von Eigenschaften in einem Persönlichkeitstest abzufragen. Deshalb versuchten Psychologen, für diese Eigenschaften übergeordnete Dimensionen zu finden. Und so entstand im Laufe der Jahre das Fünf-Faktoren-Modell, auch Big Five genannt.

Dem Modell zufolge gibt es fünf Persönlichkeitseigenschaften, die bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt sind. Mal hoch, mal niedrig. Und diese fünf Eigenschaften sind:

1. Extraversion. Menschen mit hoher Extraversion sind gesprächig, durchsetzungsstark und energiegeladen. Am anderen Ende des Spektrums stehen die Introvertierten. Sie sind eher ruhig, zurückhaltend und schüchtern.

2. Verträglichkeit. Personen mit hohen Verträglichkeitswerten sind mitfühlend, freundlich und herzlich. Jene mit niedrigen Verträglichkeitswerten sind streitsüchtig und unbarmherzig.

3. Gewissenhaftigkeit. Das erklärt sich fast von selbst – sehr gewissenhafte Menschen sind organisiert, verantwortungsbewusst und vorsichtig. Ihr Gegenpol ist sorglos und leichtsinnig.

4. Neurotizismus. Der Name deutet es schon an. Personen mit einer hohen Ausprägung in Neurotizismus sind tendenziell ängstlich, launisch und leicht zu irritieren. Personen mit wenig Neurotizismus sind emotional stabil und ausgeglichen.

5. Offenheit für Erfahrungen. Ein hoher Wert geht einher mit Kreativität und Neugier. Verschlossene Personen sind eher konservativ und bodenständig.

Sie sehen schon: Das Modell ist ziemlich leicht nachvollziehbar – und lässt sich in Persönlichkeitstests recht gut abfragen. Genau das taten Wissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten auch. Und dabei gelangten sie nicht nur zu der Erkenntnis, dass die Big Five am besten geeignet sind, um die Persönlichkeit zu charakterisieren. Sie glaubten auch, dass das Modell weltweit gültig sei. Erst 1997 legten Robert McCrae und Paul Costa in einer Studie nahe, dass die Big Five auch auf Deutsch, Portugiesisch, Chinesisch, Hebräisch, Koreanisch und Japanisch gelten.

Kurzum: Dutzende von Untersuchungen legten nahe, dass sich mit den Big Five jeder Mensch einordnen lässt, und dass dabei die wichtigsten charakterlichen Unterschiede berücksichtigt werden – egal ob in Gütersloh oder Ghana. Doch nun erhält diese Theorie erste Risse.

***

Das Volk der Tsimané lebt im Nordosten Boliviens in Wäldern und Grassteppen. Insgesamt umfasst der Stamm 10.000 Personen, die über 90 Dörfer verteilt sind – alle ohne Strom und Elektrizität. Doch etwa ein Drittel der Dörfer hat inzwischen Schulen, wo die Kinder Lesen und Schreiben lernen – und zwar sowohl in der Volkssprache Tsimané als auch auf Spanisch.

Die Tsimané ernähren sich hauptsächlich von selbst angebautem Reis und Mais, selbst geangeltem Fisch und selbst erjagtem Fleisch. Auch wenn sich einige inzwischen zunehmend in die Gesellschaft integrieren – die meisten bleiben am liebsten unter sich. Doch einer Gruppe von Wissenschaftlern ist es in den vergangenen Jahren gelungen, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Eine Forschergruppe um Michael Gurven von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara startete im Jahr 2001 das „Tsimane Health and Life History Project“. Seitdem untersuchen Wissenschaftler die Lebensbedingungen des Volkes – und was wir daraus lernen können.

Im vergangenen Jahr fanden sie zum Beispiel in einer Studie heraus, dass die Tsimané-Männer weniger Testosteron im Blut haben – womöglich ein Hinweis darauf, dass sich ihr Körper an die widrigen Lebensumstände angepasst hat. Denn Testosteron sorgt üblicherweise für mehr Muskelmasse – und das kostet Energie. Außerdem kann Testosteron das Immunsystem schwächen. Beides ist für ein Leben im Dschungel nicht gerade förderlich.

In einer neuen Studie testete Garven nun mit einigen Kollegen die Persönlichkeit des Urvolks. Vor allem wollte er herausfinden, ob die Big Five auch für sie galten. Wenn das Modell wirklich universell ist – wie Persönlichkeitspsychologen annahmen -, dann müsste die Antwort eindeutig „ja“ lauten.

Für die Studie ließ er einen Persönlichkeitstest in die Sprache der Tsimané übersetzen. Dann befragte er 632 Mitglieder des Stammes, die in 28 Dörfern lebten. Im Schnitt waren die Teilnehmer 47 Jahre alt. Außerdem sollten 430 weitere Erwachsene die Persönlichkeit ihres Partners einschätzen.

Und siehe da: Garven konnte bei ihnen die Kriterien für das Big-Five-Modell nicht verifizieren. In bisherigen Untersuchungen hatte sich das Modell immer als objektiv, reliabel und valide erwiesen – Kriterien, die gegeben sein müssen, damit ein Test als verlässlich gilt. Doch genau diese drei Punkte waren hier nicht gegeben – weder bei den Selbsteinschätzungen noch bei den Befragungen der Parter, und zwar unabhängig vom Alter, Geschlecht, Bildungsstand oder Sprachvermögen.

Stattdessen konnte Garven lediglich einzelne Ausprägungen bestätigen. So fand er heraus, dass alle Tsimané vor allem sorgfältig, ausdauernd, fleißig und prosozial eingestellt waren – Eigenschaften, die für ihr Überleben wesentlich essenzieller sind als Gesprächigkeit oder Neugier.

„In kleinen Gesellschaften ist die Auswahl an sozialen und sexuellen Partnern wesentlich geringer, genauso wie die Gelegenheit zu Leistung und Erfolg“, sagte Garven in einer Pressemitteilung. Deshalb erfordere die Umgebung andere Fähigkeiten und Eigenschaften als in modernen Gesellschaften. Sprich: eine andere Persönlichkeit. Offenbar sind die Big Five also doch nicht weltweit gültig.

Überarbeitung vom 15.01.2013, 10.50 Uhr: Ich habe den unteren Abschnitt noch einmal bearbeitet. In der ersten Version hatte ich geschrieben, dass Garven „keinen Beleg für die Existenz der Big Five“ finden konnte. Diese Formulierung war allerdings missverständlich. Ich hoffe, die Essenz der Studie wird nun klarer.

Quelle:
Michael Gurven et al (2012). How Universal Is the Big Five? Testing the Five-Factor Model of Personality Variation Among Forager–Farmers in the Bolivian Amazon. Journal of Personality and Social Psychology

5 Kommentare

  1. Eure Informationen zur Persönlichkeitspsychologie helfen mir unglaublich weiter. Ich kenne mich hier nicht wirklich aus. Jetzt habe ich dank Ihnen aber ein besseres Verständnis.

  2. Das Big Five nicht auf alle Volksgruppen anwendbar ist und es sicherlich noch andere
    Beispiele gibt ist klar. Sofort fallen mir da die Aborigines ein. Der Anspruch den die
    Persönlichkeitspsychologen jahrelang gestellt haben,ist in Überheblichkeit oder nur mit
    Scvheuklappen zu begründen.

  3. Lars Lorber schrieb „Offenbar hat hier die Evolution dieses kleinen Völkchens die sonst gängigen Persönlichkeitsmerkmale der Big Five ausgehebelt.“
    Da Persönlichkeitsmerkmale nur mittelfristig stabil sind, würde ich nicht die Evolution als Haupteinflussfaktor sehen sondern eher die Lebensumstände.
    Daher könnte ich es mir eher andersherum vorstellen: Erst eine Massengesellschaft, die ähnliche Anforderungen an ihre Mitglieder stellt, bringt ähnliche Persönlichkeitsstrukturen hervor, die sich global finden lassen.
    Außerdem sind die Tsimané sind nicht die einzige Gruppe, auf die das Modell nicht uneingeschränkt anwendbar ist. In China fand sich ein zusätzlicher Faktor „Interpersonale Bezogenheit“. (Weber, Rammsayer (Hrsg), 2005: Handbuch der Persönlichkeitspsychologie und Differentiellen Psychologie, p. 223)

  4. Höchst interessant. Offenbar hat hier die Evolution dieses kleinen Völkchens die sonst gängigen Persönlichkeitsmerkmale der Big Five ausgehebelt. Wenn man der Theorie folgt, dass unsere Persönlichkeit (bzw. Big Five) durch Evolution entstanden ist, macht das Sinn. Dann dürfte es auf der Welt auch noch auch noch andere Volksgruppen geben, auf die die Big Five ebenfalls nicht passen.

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