Bislang dachten Wissenschaftler, dass die Fähigkeit zu Mitgefühl im Alter sinkt. Eine neue Studie zeigt jedoch: Senioren sind genauso empathisch.
Ein abfälliger Blick hier, ein falsches Wort dort – und schon fühlen Menschen sich missverstanden. Sicher, das kommt vor. Doch langfristig funktioniert keine Beziehung ohne Mitgefühl. Eine Liebesbeziehung schon gar nicht. Empathie ist ein Klebstoff, der Menschen zusammenhält.
Bislang waren Forscher davon ausgegangen, dass diese Fähigkeit mit steigendem Lebensalter abnimmt. Eine Reihe von Studien konnte zeigen, dass es älteren Menschen häufig schwer fällt, Gesichtsausdrücke oder Stimmen richtig zu interpretieren. Haben Senioren also generell Probleme damit, Gefühle ihrer Mitmenschen zu erkennen?
Dieser Frage widmeten sich nun Wissenschaftlerinnen des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. Die Psychologin Antje Rauers wollte in ihrer Studie herausfinden, ob verschiedene Generationen die Gefühle ihres Partners einschätzen können – und ob es Unterschiede zwischen den Altersstufen gab.
Für ihr Experiment gewann sie 100 Paare und teilte sie in zwei Gruppen: Jugendliche im Alter von 20 und 30 und Senioren zwischen 69 und 80.
Nun legte Rauers allen verschiedene Porträts vor. Mal guckten die Menschen darauf wütend, mal glücklich, mal traurig. Die Probanden sollten beurteilen, welche Emotionen die abgebildeten Personen zeigen.
Und tatsächlich: Im Labor bestätigte sich zunächst die bisherige Erkenntnis. Die Senioren schnitten schlechter ab.
Doch der Versuch ging noch weiter. Mit Hilfe von Smartphones übermittelten alle Freiwilligen im Anschluss zwei Wochen lang ihre eigenen Gefühle, und zwar sechs Mal am Tag. Außerdem sollten sie die Gefühle des Partners einschätzen – und angeben, ob das Herzblatt gerade anwesend war. Und siehe da: Nun verschwand der Unterschied zwischen den Generationen.
Offenbar fällt es vielen Senioren tatsächlich schwerer, die Gefühle ihres Partners zu beurteilen. Aber nur dann, wenn er anwesend ist – und es darum geht, im Gesicht zu lesen oder die Stimme einzuschätzen. Sobald der Partner jedoch abwesend ist, ändert sich das Bild. Dann beruht das Urteil darauf, den Partner gut zu kennen. Und hier schlagen sich ältere Erwachsene genauso gut wie Jugendliche. Vor allem dann, wenn sie – wie die Senioren in Rauers Experiment – im Schnitt mehr als 48 Jahre zusammen sind.
Manche Menschen verstehen sich eben blind und wissen sofort, wie es dem anderen geht. Antje Rauers: „Und diese wichtige Fähigkeit bleibt im Alter stabil.“
Quelle:
Antje Rauers, Elisabeth Blanke, and Michaela Riediger (2013). Everyday Empathic Accuracy in Younger and Older Couples: Do You Need to See Your Partner to Know His or Her Feelings? Psychological Science