Weder gesunde Ernährung noch viel Sport oder Geld verlängern das Leben. Was wirklich wirkt, ist Harmonie mit unseren Mitmenschen. Der Name dieses Phänomens: Roseto-Effekt.
Stewart Wolf traute seinen Ohren nicht. Die Geschichte klang zu seltsam, um wahr zu sein. Ende der Fünfzigerjahre hielt der Mediziner von der Universität von Oklahoma einen Vortrag in der Nähe seines Sommersitzes in Pennsylvania. Eine Ärztevereinigung hatte ihn dorthin eingeladen, nach seinem Vortrag ging er noch mit ein paar Kollegen essen. Und einer davon erzählte ihm eine faszinierende Geschichte.
Seit 17 Jahren praktiziere er schon in der Gegend, in einem kleinen Dorf namens Roseto. Doch kaum einer der Bewohner unter 65 leide an einer Herzerkrankung.
Nun muss man wissen, dass Herzleiden zu der Zeit eine Volkskrankheit waren – die häufigste Todesursache bei Männern unter 65. Dass in einem ganzen Dorf keiner daran erkrankte, schien Stewart Wolf mehr als ungewöhnlich, wenn nicht gar frei erfunden. Also entschied er, sich das wundersame Dörfchen Roseto einmal näher anzusehen.
1961 machte er sich gemeinsam mit Studenten und Kollegen auf den Weg und studierte zunächst die Totenscheine der Bewohner. Voller Akribie werteten er und sein Team die Archive örtlicher Arztpraxen aus, sie rekonstruierten Familienstammbäume und luden die gesamte Bevölkerung von Roseto zu Untersuchungen ein.
Das Ergebnis war verblüffend: Kaum jemand unter 55 war dort je an einem Herzinfarkt gestorben oder wies Anzeichen einer Herzerkrankung auf. Bei Männern über 65 lag die Zahl der tödlichen Koronarerkrankungen um die Hälfte niedriger als im Rest des Landes.
Mehr noch: Die Todesrate sämtlicher untersuchter Krankheiten war in Roseto bis zu 35 Prozent niedriger als im amerikanischen Landesdurchschnitt. Es gab keine Selbstmorde, keinen Alkoholismus, keine Drogenabhängigkeit, kaum Verbrechen, keine Magengeschwüre. Es schien, als seien die Einwohner Rosetos nicht von dieser Welt, ausgestattet mit übernatürlichen Kräften. Was war ihr Geheimnis?
Des Rätsels Lösung
Stewart Wolf suchte nach der Nadel im Heuhaufen. Doch weder ernährten sich die Einwohner besonders gesund (im Gegenteil), noch verschmähten sie Zigaretten (viele waren sogar starke Raucher). Und einen optimalen Body-Mass-Index hatten sie schon gar nicht (das Gros hatte Übergewicht). Nirgends fand Wolf Hinweise. Bis er eines Tages auf die Idee kam, ihr Sozialverhalten zu beobachten.
Und – bingo! – das war es: Die Menschen in Roseto lebten in großer Harmonie. Oft wohnten bis zu drei Generationen unter einem Dach, die Einwohner engagierten sich in verschiedenen Vereinen, sie spielten zusammen, feierten gemeinsam, unterhielten sich auf der Straße und beim Essen angeregt miteinander – frei von Missgunst und Materialismus. Genau diese spezielle Form des Zusammenlebens bildete den Ursprung ihrer Vitalenergie und Widerstandskraft gegen das Alter.
Wolf hat seine Forschungsergebnisse über den sogenannten Roseto-Effekt seitdem in mehreren Aufsätzen und Büchern zusammengefasst – und damit zugleich den Grundstein gelegt für die Arbeiten des amerikanischen Abenteurers und Autors Dan Buettner. Den treibt vor allem eine Frage an: Wie werde ich über 100 Jahre alt?
So absurd sich die Frage anhören mag – Buettner ist davon überzeugt, dass wir unsere Lebenserwartung zu einem Gutteil selbst in der Hand halten. Er hat in den vergangenen Jahren vier sogenannte Blaue Zonen ausfindig gemacht – Gegenden, in denen der Anteil von über 100-Jährigen außergewöhnlich hoch ist.
Diese Zonen sind: ein Dorf auf Sardinien, ein Viertel auf der japanischen Halbinsel Okinawa, das kalifornische Städtchen Loma Linda und die costa-ricanische Halbinsel Nicoya. Und natürlich hat Buettner bei seinen diversen Besuchen vor Ort mittlerweile einige Faktoren zusammengetragen, die seiner Meinung nach für ein längeres Leben sorgen:
1. Viel bewegen. Also beispielsweise die Treppe statt des Aufzugs nehmen, das Fahrrad statt des Autos.
2. Weniger esssen. Die Bewohner in Okinawa hören auf zu essen, wenn ihr Magen noch nicht ganz voll ist. Kleinere Teller und Schüsseln helfen.
3. Obst essen. Sowie Nüsse und Gemüse.
4. Rotwein trinken. Allerdings nur in Maßen, maximal zwei Gläser am Tag.
5. Ziele haben. Wer weiß, was er will, ist zufriedener. Damit man sein Ziel nicht aus den Augen verliert, empfiehlt Buettner, die persönliche Mission schriftlich festzuhalten – und sich immer wieder neuen Herausforderungen zu stellen.
6. Regelmäßig entspannen. Sich Pausen gönnen. Und weniger fernsehen.
7. Dran glauben. Die Zugehörigkeit zu einer spirituellen oder religiösen Gemeinschaft sei ebenfalls von Vorteil.
8. Freundschaften pflegen. Wie sich schon in Roseto zeigte, haben familiäre und freundschaftliche Bindungen einen enormen gesundheitlichen Effekt. Pflegen lassen sich diese Bande auch mittels fester Rituale wie Spieleabende oder sonntägliche Abendessen.
9. Gleichgesinnte suchen. Auch die Wahl der richtigen Freunde – und zwar solcher, die ähnliche Werte haben (am besten die der Punkte 1 bis 8), ist laut Buettner essenziell.
Natürlich sind diese Punkte allesamt trivial. Andererseits gibt einem die Tatsache, dass Buettner nur vier solcher Zonen auf der ganzen Welt gefunden hat, doch zu denken. Davon zu wissen, bedeutet eben noch lange nicht, danach zu leben.
Wer diese Erkenntnisse jedoch offenbar ein Leben lang berücksichtigt hat, ist der Entdecker des Roseto-Effekts: Stewart Wolf starb im Jahr 2005 – im Alter von 91 Jahren.
Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Ich denke, also spinn ich„, das ich gemeinsam mit meinem Kollegen Jochen Mai geschrieben habe.
@Marcel: Wie Sie hier (http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/?term=Roseto+AND+Wolf) sehen können, hat Gladwell den Effekt mitnichten erfunden, sondern liest vermutlich dieselben Quellen.
Vielen Dank für die Übersetzung aus Malcom Gladwells „Überflieger“.
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Hehe „Allerdings nur in Maßen, maximal zwei Gläser am Tag.“ Ist das eine Anleitung zum Alkoholismus?
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