Anlage und Umwelt – Marshmallow-Test in der Kritik

Der legendäre Marshmallow-Test legte nahe, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle nicht nur ein Indikator für Erfolg ist, sondern auch angeboren. US-Wissenschaftler behaupten in einer neuen Studie: Die Umwelt ist genau so wichtig.

Ab 1968 ging der Psychologe Walter Mischel regelmäßig in eine Vorschule in Stanford. Sechs Jahre lang machte er knapp 700 Kindern ein verlockendes Angebot: Sie konnten einen Marshmallow, eine Süßigkeit aus weißem Zuckerschaum, entweder sofort verputzen – oder ein paar Minuten warten.

Mischel sagte den Kindern, dass er den Raum kurz verlassen würde. Wenn sie den Marshmallow in dieser Zeit liegen ließen, sollten sie zur Belohnung einen zweiten erhalten.

Das Ergebnis seiner Originalstudie klingt zunächst mal nicht sonderlich faszinierend: Manche Kinder konnten warten, andere nicht. Vor allem war ihre Geduld davon abhängig, ob sie sich währenddessen auf die Belohnung konzentrierten oder nicht.

Doch etwa zehn Jahre später, die Kinder waren inzwischen zu Jugendlichen gereift, kontaktierte Mischel für eine zweite Studie ihre Eltern. Und dabei stieß er auf einen erstaunlichen Zusammenhang.

Die Kinder, die damals sofort einen Marshmallow haben wollten, galten als stur, ungeduldig und neidisch. Sie waren emotional instabiler und hatten in der Schule schlechtere Noten – unabhängig von ihrer Intelligenz. Die Geduldigen hingegen waren stressresistent, sozial kompetent und zuverlässiger. Vor allem waren sie dazu in der Lage, eine Belohnung aufzuschieben, wenn sie dadurch ihren Zielen näher kamen.

Offenbar ist die Fähigkeit zum Gratifikationsaufschub, wie Psychologen den Belohnungsverzicht nennen, nicht nur ein Indiz für Willensstärke – sondern auch eine Erfolgseigenschaft. Und diese Fähigkeit, so das zentrale Ergebnis von Mischels Studien, bildet sich bereits in jungen Jahren heraus. Sie ist angeboren – glaubte man jedenfalls.

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Vor einigen Jahren arbeitete Celeste Kidd in einem Heim für obdachlose Familien im kalifornischen Santa Ana. Dort lebten zahlreiche Kinder mit ihren Eltern. Alle auf engstem Raum, niemand mit vielen Habseligkeiten. Kidd las damals von Mischels Marshmallow-Studien und fragte sich, wie die obdachlosen Kinder wohl auf den Test reagieren würden: „Sie würden den Marshmallow sofort essen“, dachte sie sich.

Doch je länger sie die Kinder beobachtete, desto mehr bezweifelte sie, ob der Marshmallow-Test wirklich geeignet sei, um angeborene Fähigkeiten zu entdecken. Wenn Kinder es gewohnt seien, dass man ihnen ständig ihre Sachen wegnehme, dann wäre es eine rationale Entscheidung, eben nicht auf eine größere Belohnung zu warten – und lieber den sprichwörtlichen Spatz in der Hand zu haben.

Ein Gedanke, der Kidd nicht mehr los ließ, und den sie nun als Doktorandin der Universität von Rochester aufgegriffen hat. Denn in einer neuen Studie kommt sie gemeinsam mit ihrem Doktorvater Richard Aslin zu dem Ergebnis: Ob ein Kind den Marshmallow sofort mampft oder auf einen zweiten wartet, kann von den Versuchsleitern manipuliert werden.

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Kidd teilte für ihren Versuch 28 Kinder im Alter zwischen drei und fünf in zwei Gruppen. Alle sollten mit Stiften einen weißen Aufkleber bemalen, der später einen Trinkbecher schmücken sollte. Die Kinder von Gruppe A bekamen nun eine Dose mit gebrauchten Wachsmalstiften überreicht. Doch Kidd versprach, dass sie mal kurz aus dem Raum gehen werde, um neue und bessere Stifte zu holen.

Wenige Minuten später kam sie wieder, mit einer breiten Palette frischer Stifte. Nun legte sie einen kleinen Aufkleber auf den Tisch – und sagte den Kindern, dass sie rasch noch mal schönere Aufkleber holen werde. Wenig später kehrte sie mit einer großen Auswahl von Aufklebern zurück.

Den Kindern von Gruppe B versprach sie ebenfalls bessere Stifte und bessere Aufkleber – allerdings hielt sie sich nicht dran. Jedes Mal kehrte sie wieder und entschuldigte sich bei den Kleinen. Sie habe einen Fehler gemacht, es seien weder neue Stifte noch neue Aufkleber vorhanden. Mit anderen Worten: Die Kinder von Gruppe B wurden enttäuscht. Und das zeigte im anschließenden Marshmallow-Test Wirkung.

Wie damals bei Walter Mischel konnten alle entweder einen Marshmallow sofort essen oder auf einen zweiten warten. Doch die beiden Gruppen unterschieden sich in puncto Selbstherrschung ganz erheblich. Gruppe A wartete im Schnitt immerhin zwölf Minuten und zwei Sekunden, bis sie den Marshmallow doch anknabberten. Gruppe B hingegen gab ihren Impulsen schon nach drei Minuten und zwei Sekunden nach.

Mehr noch: Immerhin neun Kinder von Gruppe A warteten 15 Minuten und rührten die Süßigkeit gar nicht an. In Gruppe B schaffte das nur ein Kind.

„Die Fähigkeit von Kindern zum Gratifikationsaufschub wird offenbar erheblich davon beeinflusst, wie verlässlich ihre Umgebung ist“, resümiert Kidd. Mit anderen Worten: Selbstkontrolle ist gut und schön – wird aber vernachlässigt, wenn sie ohnehin wertlos erscheint.

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Weil es so schön hier, hier noch einmal das Video eines Marshmallow-Tests an einer amerikanischen Schule:

Quelle:
Celeste Kidd, Holly Palmeri, Richard Aslin (2012). Rational snacking: Young children’s decision-making on the marshmallow task is moderated by beliefs about environmental reliability. Cognition.

9 Kommentare

  1. Walter Mischel weist sowohl in zahlreichen Interviews, als auch in seinem Buch „Der Marshmallow-Effekt“ hin, dass der Test nur eine Momentaufnahme ist und Selbstkontrolle durch viele verschiedene Strategien erlernt werden kann. Die Erziehung ist bei der Entwicklung dieser besonders ausschlaggebend. Wenn ein Kind schlechte Erfahrungen mit Versprechen oder „verlässlichen“ Erwachsenen gemacht hat, ist die Wahrscheinlichkeit somit auch geringer, dass es auf das zweite Marshmallow wartet. Nicht weil es möglicherweise nicht warten könnte, sondern weil es nicht darauf vertraut, tatsächlich eine zweite Leckerei zu erhalten. Er weist, wie bereits erwähnt, in mehreren Interviews darauf hin, dass Selbststeuerung erlernbar und die Persönlichkeit dadurch auch veränderbar ist. Das ist keine Frage von Anlage oder Umwelt.

  2. Es ist zweifelhaft, ob damit die Annahme einer starken Determinierung von Belohnungsaufschub-Fähigkeit und Disziplin im Kleinkindalter angezweifelt werden kann. Schließlich hat sich Frau Kidd ja konkret gegenüber der Gruppe B im Experiment als „Lügnerin“ geoutet. Die Kinder von Gruppe B mussten also nicht aufgrund vorheriger, allgemeiner Erfahrung mit der Nicht-Aushändigung des zweiten Marshmallows rechnen, sondern aufgrund der konkreten, gerade gemachten Erfahrung mit dieser Testerin.

    Auch allgemeine, negative Erfahrungen in Vertrauen auf die Versprechen Erwachsener lassen sich damit nicht sinnvoll testen.

    Ich kann den klassischen Marshmallow-Test auch nur als Beleg einer angeborenen oder zumindest durch frühkindliche Prägung gestalteten Disziplinfähigkeit sehen; die ganze entscheidende Erziehung zu diszipliniertem Verhalten, Belohnungsaufschub usw., die eigentlich erst mit der Schule bzw. Vorschule richtig einsetzt, hatte bei diesen Kindern noch nicht statt gefunden. Sie waren fast „unbeschriebene Blätter“.

    Wäre die Fähigkeit zum Belohnungsaufschub nicht schon im Kleinkindalter determiniert gewesen, so hätte zumindest ein Teil der „undisziplinierten“ Kinder später etwas nachholen können, oder disziplinfähige Kinder wären später zurück gefallen.

    Mir geht es vor allem darum, dass „undisziplinierte“ Verhaltensweisen wie Faulheit, Unkonzentration und Impulsivität auch gegen den eigenen, rationalen Willen eben nicht den Betroffenen als schuldhaft angekreidet werden, dass man endlich von diesen Behauptungen wegkommt, das jemand einfach nur „sich zusammen nehmen“ oder „wirklich wollen“ müsse, dass man solche Leute bestrafen oder bedrohen müsse (z.B. Hartz IV-Streichung), um ihnen mit Gewalt Disziplin beizubringen.

  3. @Daniel Rettig: Vielen Dank für Ihre Antwort!

    1. Richtig. Genauso wenig, wie die Studien etwas über Angeborenheit ausgesagt haben. Daher bin ich der Meinung, dass das Thema Ihres Artikels eher unpassend gewählt ist, da es in den Mischel-Studien nicht um die Anlage-Umwelt-Diskussion ging.

    2. Ja. Und zwar in genau dem Paper, das Sie weiter oben zitieren… 🙂 Mischel et al. (1972) haben den 4-Jährigen unterschiedliche Anweisungen gegeben und je nach gelehrter Strategie signifikant unterschiedliche Ergebnisse gefunden (z. B. Abbildung 1, S. 15).
    Eine neueres Beispiel zeigt durch eine Intervention signifikante Verbesserungen im Belohnungsaufschub bei 10-Jährigen, sowohl bei psychisch gesunden Stichproben als auch bei Kindern mit ADHS, die klassischerweise chronische Schwierigkeiten bei der Impulskontrolle haben (Gawrilow, Gollwitzer, & Oettingen, 2011).

    Ihrer Konklusion stimme ich zu. Bitte beachten Sie aber, dass sogar Shoda, Mischel und Peake (1990) in ihrem eigenen Paper schreiben, dass „selbst die höchsten Korrelationen nur ca. 25% der Varianz ausmachen“ (S. 8) – meistens ist so etwas gemeint, wenn Psychologen von „relativ hohen Zusammenhängen“ sprechen. 🙂

  4. @So: Erstmal danke für Deine Kommentare. Ein paar Anmerkungen:

    1. „Die Kinder wurden mit ca. 4 Jahren getestet, da hatte die Umwelt bereits unendlich viele Möglichkeiten gehabt, ihre Entscheidungen mitzubeeinflussen.“ Das mag sein, aber wenn ich das richtig sehe, wurde das in der Original-Studie nicht explizit untersucht.
    2. Und aus einer Neugierde: „Zeigen andere Studien auch, dass Strategien zur Selbstregulation gelehrt werden und die Leistung sehr stark verbessern können.“ Gilt das auch für Kinder? Wenn ja, würde mich interessieren, ob es dazu empirische Studien gibt.
    Essenz der Mischel-Studie ist doch: Offenbar besteht ein Zusammenhang zwischen Selbstkontrolle in jungen Jahren und gewissen Erfolgsindikatoren in späteren Jahren.

  5. Wie kommen Sie darauf, dass der Marshmallow-Test die genetische Determination von Willensstärke nahelegt? Oder eine sonstige Art von Angeborenheit? Die Kinder wurden mit ca. 4 Jahren getestet, da hatte die Umwelt bereits unendlich viele Möglichkeiten gehabt, ihre Entscheidungen mitzubeeinflussen.
    Außerdem ist dieses Merkmal gerade keine feststehende Persönlichkeitseigenschaft, sondern eine Fähigkeit, die trainiert werden kann: Die Leistung der Kinder hing von den Strategien ab, die sie zur Ablenkung angewandt haben und Strategien kann man lernen.
    Auch, wenn die Casey et al. Studie von 2011 zeigt, dass die Eigenschaft (im Vergleich zu einer ganz bestimmten Bezugsruppe) relativ stabil sein kann, zeigen andere Studien auch, dass Strategien zur Selbstregulation gelehrt werden und die Leistung sehr stark verbessern können.
    Nichtsdestotrotz hat man mit bestimmten frühkindlichen Erfahrungen oder von mir aus auch mit einer bestimmten genetischen Ausstattung sicherlich eine bessere Basis.

  6. Vielen Dank für diesen interessanten Artikel, der einmal mehr zeigt, wie sich Tatsachen verändern können, wenn sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. In der Forschung hat natürlich auch die Vorstellung und Erwartung des Projekt-Leiters ein gewisses Gewicht auf das Ergebnis. Aber das wäre ja schon wieder ein anderes Thema ;-). Sonnengruß aus dem Isartal, besser und besser, Gaba

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