Literatur fördert die Empathie

Literatur ist nicht nur gut für die grauen Zellen. Laut einer neuen Studie fördern Romane die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen.

„Es ging mir wie denen, die sich auf die Reise begeben, um mit eigenen Augen eine Stadt ihrer Sehnsucht zu schauen, und sich einbilden, man könne der Wirklichkeit den Zauber abgewinnen, den die Phantasie uns gewährt.“

Hach.

Dieser Satz stammt aus dem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. So kompliziert das Buch manchmal ist, weil der Autor gerne lange Schachtelsätze benutzt, so schön lesen sich manche Passagen. Und dadurch verändert sich auch der Leser – sogar messbar.

So lautet zumindest das Ergebnis einer neuen Studie der beiden Wissenschaftler David Comer Kidd und Emanuele Castano von der New School for Social Research in New York.

In fünf verschiedenen Experimenten teilten sie knapp 700 Freiwillige jeweils in zwei Gruppen. Die einen lasen zunächst Passagen aus Romanen, darunter „Ein Chamäleon“ von Anton Pawlowitsch Tschechow. Die anderen lasen Auszüge aus Sachbüchern oder Texte aus Magazinen.

Nun absolvierten alle Probanden verschiedene Übungen, bei denen ihre Empathie gefragt war – also die Fähigkeit, sich in seine Mitmenschen hineinzuversetzen.

Siehe da: Egal ob es darum ging, fremde Gefühle oder fremde Gedanken zu erkennen – die Literaturgruppe schlug sich jedes Mal besser. Und zwar unabhängig von Alter, Bildung oder Geschlecht.

Nach Ansicht von Kidd und Castano fördert Literatur womöglich die Theorie des Bewusstseins (theory of mind). Dahinter verbirgt sich ein Ausdruck der beiden US-Wissenschaftler David Premack und Guy Woodruff. Sie verstanden darunter die Fähigkeit, sich in die Perspektive des Gegenübers zu versetzen – und zwar sowohl rationale Elemente wie Ansichten und Meinungen zu erkennen als auch emotionale Faktoren wie Träume, Wünsche und Hoffnungen.

„Belletristik vergrößert unser Verständnis für das Leben der anderen“, schreiben die Forscher, „und hilft uns dabei, Gemeinsamkeiten zu erkennen.“

Quelle:
David Comer Kidd und Emanuele Castano (2013). Reading Literary Fiction Improves Theory of Mind. Science Express

9 Kommentare

  1. Wenn man dann bedenkt, welchen Stellenwert Literatur heute einnimmt, und durch wieviel Triviales (Bücher und Fernsehen) es ersetzt wurde, siehts schlecht für die Empathie der Zukunft aus… Wäre nicht schlecht, wenn sich die Lehrer diese Studio zu Herzen nehmen würden und die Schüler zum Lesen animieren. Aber nicht im Sinne von „Pflichtlektüre“ – da wird gleich Abwehr erzeugt wegen dem bösen Wort Pflicht – sondern als Horizonterweiterung.
    Als ich in der Jugend mit Lesen begann, hab ich tatsächlich einen großen Teil der klassischen Literatur verschlungen, einfach weil ich die Sprache so herrlich fand.

  2. In der New York Times (SZ-Beilage 11.10.2013) ist ein Artikel zu dieser Studie erschienen, dort wird zwischen „literary fiction“ und „popular fiction“ unterschieden und gesagt, dass nur erstere die erwähnten Effekte hervorruft. Belletristik im Sinne von einfacher Unterhaltungsliteratur ist demnach also nicht gemeint, sondern literarische Werke wie z.B. von Munro oder Tschechow. Ein nicht unwichtiger Aspekt, finde ich!

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert