Die Frau, die das Lesen verlernte

Stellen Sie sich vor, Sie könnten plötzlich nicht mehr lesen. Eine schreckliche Vorstellung – aber genau das ist einer Amerikanerin kürzlich passiert.

Am liebsten las sie ihren Schülern vor. Doch eines Tages im Oktober 2012 veränderte sich das Leben der 40-Jährigen für immer. Die Frau mit dem Synonym „M.P.“ – ihren echten Namen halten Ärzte geheim, um sie zu schützen -, stand erneut vor ihrer Schulklasse. In der Hand hielt sie die Anwesenheitsliste, die schon seit Jahren benutzte. Doch irgendetwas stimmte nicht. Sie konnte die Namen der Kinder nicht lesen.

Dann blickte sie auf den Unterrichtsplan. Auch den kannte sie eigentlich seit Jahren. Uneigentlich blieb auch dieses Schriftstück plötzlich ein Rätsel. Sie schaffte es nicht, die Buchstaben zu entziffern. Langsam stieg Panik in ihr hoch.

Sie ließ sich krankschreiben, doch es wurde nicht besser. Ihre Mutter schickte sie nach einigen Tagen ins Krankenhaus. Und dort entdeckte man die Ursache für die seltsame Störung: M.P. hatte einen Schlaganfall erlitten – mit einer äußerst seltenen Folge. Sie konnte gehen, sprechen und hören. Aber sie konnte nicht mehr lesen.

Das ebenso faszinierende wie bedrückende Schicksal der Patientin schildern Hirnforscher um Jason Cuomo nun in einer neuen Studie. Wissenschaftler bezeichnen diese seltene Erkrankung als „Alexie ohne Agrafie“, auch Schriftblindheit genannt. Alexie bezeichnet den Verlust der Fähigkeit, zu lesen. Agrafie ist die Unfähigkeit, Wörter und Texte zu schreiben. Üblicherweise gehen beide Hand in Hand. Doch bisweilen tritt Alexie eben ohne Agrafie auf.

Erstmals erwähnt wurde das Phänomen bereits 1892 vom französischen Neurologen Joseph Jules Déjerine. Er sah die Ursache in Verletzungen, die das Sprachzentrum und das Sehzentrum voneinander trennen. Deshalb können die Betroffenen weiter sprechen und Wörter verstehen – aber keine Buchstaben mehr entziffern.

In der Geschichte der Hirnforschung gab es immer wieder schreckliche Schicksale, die für die Betroffenen höchst dramatisch, für die Wissenschaft jedoch enorm wertvoll waren. Phineas Gage etwa, der sich 1848 bei seinem Arbeitsunfall eine Eisenstange durch den Kopf bohrte. Zwar überlebte er den Unfall, auch seine geistigen und motorischen Fähigkeiten waren intakt. Doch seine Persönlichkeit veränderte sich, er war plötzlich ungeduldig, impulsiv und unzuverlässig.

Oder Henry Molaison, der 1953 am Gehirn operiert wurde, um seine epileptischen Anfälle zu heilen. Er überstand die Operation, schlug sich in IQ-Tests passabel und konnte sich unterhalten. An viele Erlebnisse aus seiner Kindheit erinnerte er sich weiterhin. Aber er konnte sich keine neuen Erinnerungen mehr einprägen.

Gut möglich, dass die Frau mit dem Pseudonym „P.M.“ sich eines Tages in diese Liste einreiht. Auch ein Jahr nach ihrem Schlaganfall kann sie noch nicht lesen. Ihre Stelle als Lehrerin kann sie nicht mehr ausüben, inzwischen arbeitet sie am Empfang eines Fitnessstudios. Immerhin behilft sie sich mit einem Trick.

Wenn sie Buchstaben sieht, fährt sie mit dem Finger über sie drüber. Ganz langsam, immer und immer wieder. Irgendwann erkennt sie den Buchstaben. Aber richtig lesen wird sie vermutlich nie wieder.

Quelle:
Jason Cuomo, Murray Flaster and José Biller (2014). Right Brain: A reading specialist with alexia without agraphia: Teacher interrupted, Neurology, Band 82, e5-e7

1 Kommentar

  1. Das ist ja eine wirklich unglaubliche Geschichte! Kaum zu glauben, aber auch interessant.
    Ich könnte mir das nicht vorstellen, nicht mehr lesen zu können. – Vor allem nicht von einem Tag auf den anderen!

    :DoppelPunkt:

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