Obwohl eine Minute weiterhin 60 Sekunden hat, fühlen sich viele Menschen unter Zeitdruck. Jetzt behaupten Wissenschaftler: Das liegt auch daran, dass wir viel schneller neue Kontakte knüpfen – vor allem in Großstädten.
Robert Levine fand es schon als kleiner Junge faszinierend, über die Zeit nachzudenken. Wie jedes Kind lernte er bald, die Zeit mit einer Uhr zu messen. In Sekunden und Minuten, in Stunden und Tagen, in Wochen und Monaten. Doch gleichzeitig erstaunte ihn, dass sich die Menschen erheblich unterschieden.
Die einen kamen ihm immer gestresst und hektisch vor, die anderen ließen sich beurlauben oder zogen monatelang ins Ausland. Manche Menschen schienen ziemlich wenig Zeit zu haben, andere ziemlich viel. Und Letztere waren Levine irgendwie sympathischer.
Deshalb war es ihm schon bald egal, dass er in seinem Beruf viel Geld verdienen konnte. Viel wichtiger war es ihm, selbst über seinen Rhythmus bestimmen und seine Zeit frei einteilen zu können.
Daher studierte Levine Psychologie und wurde schließlich Universitätsprofessor. Doch auch dort ließ ihn das Phänomen der Zeit nicht los. Und in den vergangenen Jahrzehnten hat er die Psychologie der Zeit erkundet.
Levine wollte systematisch erforschen, ob sich Orte in ihrem Lebenstempo unterscheiden und wie groß diese Unterschiede sind. Zusammen mit seinen Mitarbeitern reiste er in insgesamt 31 verschiedene Länder. Vor allem eine Frage wollten die Wissenschaftler beantworten: Wo ist es besonders schnelllebig, wo geht es besonders gemütlich zu? Und was sagt das über die Kultur und Gesellschaft des jeweiligen Landes aus?
In jedem Land untersuchten sie eine oder mehrere Großstädte. Zunächst erfassten die Forscher die durchschnittliche Gehgeschwindigkeit von mindestens 35 zufällig ausgewählten Fußgängern über 20 Meter. Zweitens analysierten sie die Schnelligkeit am Arbeitsplatz. Dafür gingen sie in Postfilialen, um eine Briefmarke zu erwerben. Wie lang würde der jeweilige Angestellte am Postschalter für den Verkauf wohl brauchen? Und drittens notierten sie die Genauigkeit von 15 zufällig ausgewählten Uhren an Bankgebäuden und verglichen sie mit der Zeitansage.
Aus allen Ergebnissen bastelten die Wissenschaftler hinterher eine Rangliste, von schnellen bis langsamen Ländern. Hier die fünf schnellsten Länder weltweit:
1. Schweiz
2. Irland
3. Deutschland
4. Japan
5. Italien
Und die fünf langsamsten:
1. Syrien
2. El Salvador
3. Brasilien
4. Indonesien
5. Mexiko
Aber was genau entscheidet über diese Geschwindigkeit?
Nach Ansicht von Levine vor allem fünf Faktoren. Der wichtigste sei die Frage, ob die Wirtschaft einer Region funktioniere. Wenn ja, sei das Tempo tendenziell schneller – und umgekehrt. Ebenfalls für eine hohe Geschwindigkeit sorgten: ein hoher Industrialisierungsgrad, eine größere Einwohnerzahl, kühleres Klima sowie eine auf Individualismus ausgerichtete Kultur, in der die Menschen hohen Wert auf Leistung legen. Alles Faktoren, die auf westliche Kulturen tendenziell stark zutreffen – und auf Deutschland ebenfalls.
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Schon seltsam: Subjektiv haben wir heute wesentlich mehr Zeit. Die Lebenserwartung hat sich in den vergangenen Jahrtausenden verdreifacht. Ein Junge, der 2010 zur Welt kam, wird im Schnitt 77 Jahre alt, ein Mädchen 82. Elektronische Geräte wie Wasch- oder Spülmaschinen nehmen uns viele lästige Aufgaben ab, Autos und Züge fahren schneller.
Dennoch sind viele Menschen in Eile. Umfragen zufolge hat jeder dritte Deutsche das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben für die wirklich wichtigen Dinge. Freunde, Partner oder Hobbys etwa.
Nun muss man dafür gar nicht in Millionen-Metropolen wie New York oder Tokio leben. Doch gleichzeitig wird kaum jemand bestreiten, dass das Leben in einer Großstadt hektischer ist als „auf dem Land“. Und das wirkt sich auch auf die Kommunikation aus.
Zu diesem Ergebnis kommt Markus Schläpfer vom Massachusetts Institute of Technology in einer neuen Studie. Dafür analysierte er zum einen 440 Millionen Handy-Telefonate aus Portugal über einen Zeitraum von 15 Monaten, zum anderen 7,6 Milliarden Festnetztelefonate in Großbritannien.
Aus allen Telefonaten bastelte Schläpfer verschiedene Netzwerke. Darin stellt jede Personen einen Knotenpunkt dar, der mit anderen verbunden ist. Schläpfer schaute nun, mit vielen anderen Menschen eine Person telefonierte, wie oft und wie lange. Außerdem berechnete er, mit welcher Wahrscheinlichkeit deren Kontakte ebenfalls miteinander verbunden waren.
Und siehe da: Es gab einen starken Zusammenhang zwischen der Anzahl der Einwohner und dem Kommunikationsverhalten am Telefon. Steigt die Bevölkerung einer Stadt um das Doppelte, haben die Einwohner durchschnittlich zwölf Prozent mehr Telefonkontakte. Beispiel Portugal: Ein Bewohner von Lissabon knüpfte im Beobachtungszeitraum doppelt so viele neue Kontakte wie ein Einwohner der Kleinstadt Lixa.
Mit anderen Worten: Menschen in großen Städten haben nicht nur ein breiteres Netzwerk, sie vergrößern es auch schneller. Ein weiteres Indiz dafür, dass das Leben subjektiv immer schneller und hektischer wird.
Oder sind Sie anderer Meinung?
Quellen:
1. Robert Levine. Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen, Piper 1999
2. Technology Review: Phone Call Data Reveals How Pace of Life Accelerates In Cities
3. Markus Schläpfer et al (2012). The Scaling of Human Interactions with City Size, arXiv:1210.5215