Ballaballa – Warum sich Facebook-Verweigerer nicht verdächtig machen

„Machen sich Facebook-Verweigerer verdächtig?“, fragt heute ein Artikel im „Tagesspiegel“ und legt nahe, dass Online-Abstinenz psychische Probleme verursache. Ein paar Anmerkungen.

Ich habe es ja eigentlich nicht so mit Kollegenbashing. Uneigentlich bin ich gerade etwas fassungslos. Der Grund: Im Tagesspiegel habe ich vorhin einen Artikel gefunden, der mich auf die emotionale Palme gebracht hat – und auf der sitze ich gerade noch.

Die Würze in Kürze: Unter der Überschrift „Machen sich Facebook-Verweigerer verdächtig?“ beschäftigt sich die Autorin Katrin Schulze mit James Holmes, der vor ein paar Tagen in einem Kino in Denver zwölf Menschen erschossen und 58 verletzt haben soll. Und gleich im Vorspann wartet sie mit einer steilen These auf: „Forscher glauben, dass Online-Abstinenz auf Störungen hindeuten kann.“ Das hat mich neugierig gemacht.

Seltsamerweise, so die Autorin, gebe es online überhaupt keine Spuren von Holmes. Er sei „nicht vernetzt“, tausche online keine Bilder und teile seine Befindlichkeiten „nicht mit der Community“. Zitat Schulze: „Das ist nicht nur ziemlich selten, sondern kommt einigen auch ziemlich verdächtig vor.“

Mir kommt das erstmal nicht sonderlich verdächtig vor, aber nun gut. Als ich das Zitat las, war ich jedenfalls sehr gespannt, wer denn diese „einige“ sind. Und Schulze kann weiterhelfen, denn sie hat einen Experten in der Hinterhand – einen gewissen Richard E. Bélanger. An dieser Stelle war ich zum ersten Mal etwas enttäuscht.

Im Vorspann hatte Schulze mir noch versprochen, dass „Forscher glauben“. Im Text kommt jetzt nur „Richard E. Bélanger“ zu Wort. Ha! Für alle Nicht-Medienschaffenden: Es ist immer ein beliebter Trick von Journalisten, zu Beginn eines Textes eine scheinbare Mehrheitsmeinung zu präsentieren. Das macht den Leser neugierig und füllt den Thesen-Ballon mit Luft. Leider war der Ballon von Schulze etwas löchrig.

Denn Schulze weiß folgendes zu berichten: Bélanger habe in einer „Studie im vergangenen Jahr“ herausgefunden, dass „junge Menschen, die sich mit ihren Online-Aktivitäten sehr zurückhalten oder das Netz gar nicht nutzen, ähnlich häufig zu Depressionen und anderen psychischen Leiden neigen wie jene, die das Netz exzessiv nutzen“. Potzblitz.

Vielleicht bin ich da etwas eigen, aber ich werde immer hellhörig, wenn Journalisten von irgendeinem Ergebnis irgendeiner Studie irgendeines Forschers sprechen, ohne auf die Herangehensweise der Studie einzugehen. Geschweige denn auf sie zu verlinken.

Möglicherweise funktionierte Katrin Schulzes Internet während der Recherche nicht so richtig, oder sie war im Stress. Aber ich behaupte einfach mal, dass sie sich die Studie nicht angesehen hat. Wenn sie das getan hätte, wäre sie auf folgenden Link gestoßen. Da ist sie, die Studie!

Ich habe mir die Studie gerade mal angesehen. Und danach war ich schon wieder enttäuscht von Frau Schulze. Denn die Daten aus Bélangers Untersuchung stammen erstens aus einer Befragung von 16-bis 20-jährigen Schweizern. Zweitens aus dem Jahr 2002. Und drittens lautete seine Essenz: Es gebe eine „U-förmige Verbindung zwischen der Intensität der Internetnutzung und schlechterer psychischer Verfassung“.

Hmm. Ich glaube, man muss kein Nobelpreisträger sein, um zu verstehen: Da steht nichts von einer Pauschalaussage à la „Internetabstinenz macht irgendwie ballaballa“. Oder etwas feiner formuliert: Die Studie resümiert – wenn überhaupt – eine „u-förmige Verbindung“. Eine eventuelle Korrelation, also einen Zusammenhang. Aber keine Kausalität. Oder noch deutlicher: Eine Aussage nach dem Motto „Online-Abstinenz führt zu diesem und jenem“ lässt die Studie nicht zu.

Und selbst wenn dem so wäre und Nicht-Onliner psychische Störungen hätten (was ich ernsthaft bezweifle): Zwischen einer eventuellen Depression und einem vermutlichen Psychopathen wie James Holmes ist doch noch ein ziemlicher Unterschied.

4 Kommentare

  1. Wie immer stichhaltig recherchiert. Ich denke auch, dass man aus einer Umfrage des Jahres 2002 nur bedingt auf modernes Internetverhalten in Bezug auf Social-network schließen kann. Denn, wieviele Leute hatten es vor 10 Jahren nötig, mit ihrem Smartphone facebook anzusurfen? lg Dani

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