Schöne Zeit – Erinnerungen machen großzügig

Nostalgie beeinflusst nicht nur unsere Gedanken und Gefühle, sondern auch unser Verhalten. Werden schöne Erinnerungen geweckt, verändern wir uns – und zwar zum Positiven.

Im Mai 2011 besuchte der 21-jährige Kanadier Taylor Jones seine Eltern. Gemeinsam mit seinem Bruder Landon durchstöberte er alte Fotoalben. Da stießen sie auf eine Aufnahme von Landons drittem Geburtstag. Darauf grinste der Jubilar in die Kamera – am selben Tisch, an dem die Brüder nun Fotos guckten. Plötzlich hatte Jones ein Aha-Erlebnis.

Vorsichtig nahm er das Foto aus dem Album und holte seine Kamera. Er stellte sich einige Meter vor den Tisch, hielt das Bild vor die Linse und fotografierte es just so, dass im Hintergrund die Küche von heute zu sehen ist. Eine selbstgemachte Collage, die Vergangenheit vorne, die Gegenwart hinten.

Jones war angefixt. Er nahm sich eine Handvoll alter Fotos und machte überall im Haus Bilder nach demselben Muster.

Dann wollte er die Bilder ins Internet stellen. Doch vorab fragte ihn das System nach einer Bildzeile. Da kam Jones die Idee, der Aufnahme einen kurzen Brief zu widmen. Der Anfang einer schier unglaublichen Erfolgsgeschichte, an deren Ende Dutzende von Zeitungsartikeln, Auftritte im Fernsehen und ein Buchvertrag stehen sollten.

Wenige Tage nach den ersten Aufnahmen registrierte Jones die Internetseite Dear Photograph. Er erzählte Freunden davon und rief sie dazu auf, eigene Fotos einzusenden. Schon bald schickten ihm Hunderte unbekannter Personen ihre Bilder. Die Erinnerung an die Kindheit hatte die Hilfsbereitschaft der Internetnutzer geweckt – und gleichzeitig ihr Interesse: Einige Wochen später wurde die Seite pro Tag 250.000 Mal angeklickt.

Jones’ Projekt ist nicht nur ein Beispiel dafür, dass Nostalgie im Internetzeitalter weiterhin funktioniert. Sondern auch dafür, wie stark sie das Verhalten von Menschen prägen kann. Inzwischen häufen sich die Hinweise darauf, dass schöne Erinnerungen unsere charakterliche Schokoladenseite hervorbringen.

Akte der Nächstenliebe

Davon ist zum Beispiel Francesca Gino überzeugt. Die Wissenschaftlerin der Harvard Business School erforscht, warum sich Menschen prosozial verhalten. So nennen Psychologen Akte der Nächstenliebe. Und die lässt sich durch Nostalgie künstlich fördern.

Zu dieser Erkenntnis gelangte Gino in mehreren Experimenten. Bei einem davon teilte sie 113 Studenten via Zufallsprinzip zunächst in zwei Gruppen. Die eine sollte einen Aufsatz über ein schönes Kindheitserlebnis schreiben, die andere über den letzten Einkauf im Supermarkt. Gruppe A wurde damit auf ihre Kindheit geprimed.

Unter Priming verstehen Psychologen eine Art Manipulation. Zahlreiche Experimente konnten zeigen, dass sich Menschen subtil beeinflussen lassen. Wer mit Worten konfrontiert wird, die mit Sauberkeit zu tun haben, verhält sich danach anständiger. Wer auf Macht gepolt wird, denkt eher an sich.

In Ginos Experiment schrieben in Gruppe A manche über das erste Mal Fahrrad fahren, andere über Spiele mit Freunden oder bestimmte Lieder. Bei der anderen Gruppe dominierten hingegen die Gedanken an ein profanes Alltagserlebnis – was üblicherweise nicht mit besonderen Gefühlen verbunden ist.

Im Anschluss fragte Gino, ob die Probanden ihr noch rasch für ein anderes Projekt zur Verfügung stehen würden. Freiwillig, versteht sich. Sie appellierte also an die Hilfsbereitschaft – und die war nach der Schreibübung unterschiedlich ausgeprägt.

Aus der Gruppe, die über den Einkauf im Supermarkt geschrieben hatte, erklärten sich 55 Prozent zur Zusatzaufgabe bereit. Wer gedanklich in seine Kindheit abgetaucht war, half in 75 Prozent der Fälle. Die Nostalgie steigerte die Selbstlosigkeit – auch im nächsten Experiment.

Wieder schrieb die eine Hälfte über ihre Kindheit, die andere über Einkäufe. Danach fragte Gino, ob sie Geld für die Opfer des verheerenden Erdbebens in Haiti mit etwa 300.000 Toten spenden würden. Die Nostalgie-Gruppe öffnete ihr Portemonnaie in 62 Prozent der Fälle, die andere Gruppe nur zu 41 Prozent. Mehr noch: Wer über seine Kindheit geschrieben hatte, spendete im Schnitt sogar doppelt so viel Geld.

Gino glaubt, dass Kindheitserinnerungen und moralisches Verhalten zusammenhängen. Vor allem deshalb, weil Kinder in jeder Kultur als unschuldige und ehrliche Wesen gelten, die frei sind von egoistischen Motiven. Außerdem fördert Nostalgie unsere Laune. Je besser wir uns fühlen, desto hilfsbereiter sind wir.

Nostalgie öffnet die Portemonnaies

Doch Nostalgie wärmt nicht nur die Herzen, sondern öffnet auch die Portemonnaies. Zu dieser Erkenntnis gelangte 2012 die Psychologin Jannine Lasaleta von der Universität von Minnesota.

In fünf Experimenten teilte sie knapp 500 Personen in zwei Gruppen. Die eine wurde bewusst auf Nostalgie gepolt. Sie sah zum Beispiel eine nostalgische Werbung, die sie dazu aufforderte, an besondere Erlebnisse mit anderen Menschen zu denken. Andere sollten über eine Begebenheit schreiben, in der sie Nostalgie empfunden hatten. Die zweite Gruppe hingegen sollte an die Zukunft oder an banale Ereignisse denken.

Danach erhielten beide Gruppen dieselbe Aufgabe. Mal sollten sie angeben, welche Summe sie für verschiedene Produkte ausgeben wollten, darunter Autos, Flachbildfernseher, Pullover oder Schlüsselanhänger. Mal sollten sie entscheiden, wie viel Geld sie mit einem Fremden teilen würden.

Und siehe da: In jedem Experiment war die Nostalgiegruppe wesentlich spendabler. Die einen hatten eine höhere Zahlungsbereitschaft, die anderen wollten mehr Geld mit Unbekannten teilen.

Lasaleta erklärt sich die Ergebnisse mit der Theorie universeller menschlicher Werte. Die entwickelte in den Neunzigerjahren der Psychologe Shalom Schwartz. Er war der Ansicht, dass jeder Mensch über gewisse Werte verfügt, die ihm wichtig sind, darunter Selbstbestimmung, Sicherheit, Leistung, Macht oder Vergnügen.

Das Problem ist: Manche dieser Werte widersprechen sich. Wer das Leben genießen will, wird nicht unbedingt Karriere machen. Wer berufliche Sicherheit anstrebt, kann sich nicht selbstständig machen. Wer nach Macht giert, kann nicht immer auf jeden Rücksicht nehmen – und umgekehrt.

Lasaleta glaubt: Wer sich nostalgisch fühlt, empfindet sein Leben als bedeutsamer. Und in diesem Zustand sind uns egoistische Motive wie Reichtum und Wohlstand unwichtiger. Nostalgie verringert also die Bedeutung von Geld und macht uns spendabler. Dann sind wir nicht nur dazu bereit, für andere Menschen mehr Geld auszugeben, sondern für Produkte ebenfalls.

Nostalgie ist demnach ein wahrhaft kostbares Gefühl, das soziales Verhalten fördert – selbst wenn wir uns nur wenige Momente mit der eigenen Kindheit beschäftigen.

So wie bei „Dear Photograph“. Wer sich eine Weile durch die Seite klickt, wird automatisch nostalgisch. Zu sehen sind Fotos kleiner Kinder, die spielen, auf den Weihnachtsmann warten oder mit ihrem Lieblingsstofftier kuscheln, alle mit kurzen Widmungen in der Bildunterschrift. Eine Nutzerin namens „Stephana“ knipste ein Foto ihrer beiden Geschwister als Kinder: „Liebes Foto, hier meine Brüder – bevor das Leben kompliziert wurde.“

Tiefes Bedürfnis

Die Botschaft seiner Seite sei ziemlich simpel, sagte Jones einmal in einem Interview: „Es geht darum, sich die Zeit zu nehmen, die Vergangenheit zu reflektieren. Daraus zu lernen, wie andere sie wahrnehmen – und an gute, schlechte oder einfachere Zeiten zu denken. Hoffentlich erleben wir die Gegenwart dadurch intensiver und wissen die Erinnerungen mehr zu schätzen.“

Kurzum: Das Erfolgsrezept der Seite ist Nostalgie. „Ich glaube, die Menschen sehnen sich nach ihr“, sagt Jones. „Sie wollen sich daran erinnern, was passiert ist. Und die Technologie von heute erlaubt es uns, dieses Bedürfnis wahrzumachen.“

Einer, der ebenfalls gerne zurückblickt, ist Robert Stampf – selbst wenn die Erinnerungen ihn schmerzen. Sein Sohn Jonathan schickte Taylor Jones ein Foto, auf dem der 85-jährige Robert neben einer Bank steht und ein altes Foto in der Hand hält, das ihn gemeinsam mit seiner Frau Doris auf ebendieser Bank zeigt.

Die Aufnahme war nur wenige Jahre zuvor entstanden. Beide Senioren lächeln sich innig an, sie sehen immer noch verliebt aus. Einige Monate später starb Doris an Krebs. Die Bildunterschrift lautet: „Liebes Foto, danke für alles, was wir hatten.“

Der Artikel ist ein Auszug aus meinem Buch „Die guten alten Zeiten“, das im dtv erschienen ist.

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