Lange Finger – Was macht Menschen zu Dieben?

Ich muss etwas gestehen: Ich bin ein Dieb. Dabei wollte ich nie einer werden – aber dann ging alles so schnell. Es passierte auf einer Klassenfahrt in der 10. Klasse. Wir gingen durch eine Fußgängerzone in Straßburg und kamen an einem Obststand vorbei. Irgendjemand hatte die famose Idee einer Mutprobe: eine Frucht klauen, weglaufen, gut fühlen. Ersteres klappte, Zweites auch, Drittes nicht. Ich nahm eine Nektarine, flitzte um die Ecke und – konnte sie nicht genießen. Das Gewissen war zu schlecht.

Hand aufs Herz: Haben Sie schon mal etwas geklaut? Sie müssen es ja nicht gleich gestehen, aber vielleicht müssen Sie gerade an Ihre ganz persönliche Jugendsünde denken. Die Frage ist: Wann werden Menschen zu Betrügern, Dieben und Lügnern? Das wollte auch der US-Psychologe Ed Diener wissen – zwar schon in den Siebzigerjahren, aber ich bin erst gestern auf seine Experimente aufmerksam geworden.

Diener und seine Kollegen beobachteten für ihre Studie 27 Häuser in Seattle am Abend von Halloween, als die Kinder ausströmten, um Süßigkeiten einzusammeln. In den Häusern hatte Diener zwei Schüsseln auf den Tisch in der Nähe des Eingangs gestellt – der eine gefüllt mit Schokoriegeln, der andere mit 5- und 10-Cent-Münzen.

Diener hatte die Hausbesitzer eingeweiht. Als die Kinder klingelten, sagten die Erwachsenen: Nehmt Euch jeder einen Schokoriegel, aber lasst die Münzen bitte liegen. Manchmal fragten die Anwohner die Kinder nach ihrem Namen oder ihrer Adresse; manchmal kamen die Kinder allein, manchmal in der Gruppe. Und manchmal warnte der Hausbesitzer, dass er das kleinste Kind der Gruppe dafür verantwortlich machen werde, wenn den Regeln nicht Folge geleistet werde. Dann entschuldigte sich der Hausbesitzer und ließ die Kinder alleine – um sie heimlich zu beobachten.

Und hier die Ergebnisse:

In jener Nacht betraten insgesamt 1352 Kinder die 27 Häuser. Die gute Nachricht: Etwa zwei Drittel der Kinder waren komplett ehrlich – sie nahmen genau einen Schokoriegel und ließen die Münzen liegen. Mehr noch: Wenn die Kinder alleine kamen und vom Anwohner nach ihrem Namen gefragt wurden, klauten sogar nur acht Prozent. Und jetzt die schlechte Nachricht: Wenn sie in einer Gruppe waren, sich nicht identifizieren mussten und die Verantwortung dem kleinsten Kind übertragen wurde, betrogen 80 (!) Prozent der Kinder. Immer wenn ein Kind anfing, machten es ihm andere Kinder schnell nach.

Psychologen nennen dieses Phänomen Deindividuation. Demnach hält sich ein Individuum weniger an gesellschaftliche Normen, wenn es sich in einer bestimmten Situation in einer Gruppe befindet, als wenn es die Situation alleine erlebt.

Ob die kleinen Langfinger die geklauten Schokoriegel genossen, erforschte Ed Diener nicht. Aus eigener Erfahrung tippe ich: nein.

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